(BaFinJournal) Als institutionelle Anleger sollen Versicherer eine Schlüsselrolle bei der Dekarbonisierung der Realwirtschaft spielen – und sind selbst von Nachhaltigkeitsrisiken betroffen. Nach BaFin-Erkenntnissen nutzten Ende 2021 jedoch nur 25 Prozent der Unternehmen Klimastresstests und Szenarioanalysen zur Messung dieser Risiken. Gespräche mit Branchenvorreitern gaben nun Einblicke in die Praxis solcher Analysen.
Auf das Management von Nachhaltigkeitsrisiken richtet die BaFin derzeit ihren Fokus – vor allem auf die Analyse und Mitigation der klimabezogenen finanziellen Risiken für die Versicherer. Methoden wie Klimastresstests und Szenarioanalysen können die Unternehmen wirksam darin unterstützen, ihr Nachhaltigkeitsrisiko einzuschätzen. In der Praxis nutzt jedoch nur jeder vierte Versicherer solche Ansätze. Daher hat die BaFin mit einigen von ihnen, die sich bereits intensiv mit dem Thema beschäftigt haben, Gespräche geführt. Dabei ging es vor allem um die methodische Ausgestaltung von klimabezogenen Analysen und die zugrunde gelegten Szenarien.
Durch die Gespräche gewann die BaFin einen Eindruck davon, wie in der deutschen Versicherungsbranche klimabezogene Analysen angewendet werden. Insbesondere die großen Unternehmen haben auf diesem Gebiet über die vergangenen Jahre viel Expertise aufgebaut. Die Gespräche mit den Vorreitern zeigen, dass die methodischen Arbeiten an den Klimawandelszenarien und klimabezogenen Analysen zwar noch nicht abgeschlossen sind, viele Unternehmen aber in den Startlöchern stehen, um diese Ansätze und Methoden in der Praxis einzusetzen.
Trotz der noch bestehenden Herausforderungen in den Bereichen Datenkonsistenz und Modellkomplexität erwartet die BaFin, dass Klimawandelszenarien und Modelle in den kommenden Jahren flächendeckend eingesetzt werden können.
Wie Nachhaltigkeitsrisiken untersucht werden
Die befragten Versicherer gaben an, Nachhaltigkeitsrisiken grundsätzlich in traditionellen Risikokategorien (Markt- und Kreditrisiken etc.) zu erfassen und nicht als separate Risikokategorie. Insgesamt werden bei den Unternehmen transitorische und physische Risiken gleichermaßen untersucht, während einige Unternehmen auch explizit Rechts- und Prozessrisiken analysieren. Fast alle befragten Unternehmen beleuchten die Effekte von Nachhaltigkeitsrisiken auf die Aktiv- und die Passiv-Seite gleichermaßen.
Weiterentwicklung von Methoden
Die Unternehmen gaben zudem an, dass sie Stresstests und Szenarioanalysen zur Abbildung von Nachhaltigkeitsrisiken nutzen. Die angewandten Szenarien bieten aus Sicht der befragten Unternehmen, beispielsweise durch eine transparente Dokumentation, bereits sehr gute Grundlagen für die Versicherungswirtschaft, um Analysen zu gestalten. Obwohl die Datenverfügbarkeit wächst, sind eine Vielzahl von inhaltlichen und technischen Annahmen und Schätzverfahren notwendig. So unterliegt die Durchführung von klimabezogenen Analysen notwendigerweise weitgehend gewissen Unsicherheiten. Zudem nehmen die Menge und die Komplexität von Modellen zu; auch der personelle und finanzielle Aufwand für die Durchführung von Klimastresstests und Szenarioanalysen ist nach Angaben der befragten Versicherer nicht zu unterschätzen.
Die Unternehmen ziehen neben den genannten Szenarien zudem unternehmensinterne Analysen heran, die auch qualitative Ansätze umfassen. So kommen hier aufgrund der derzeit noch nicht ausreichend granularen Quantifizierung und der begrenzten Interpretierbarkeit quantitativer Modelle oft Heatmaps (siehe Kasten „Zentrale Begriffe kurz erklärt“) zur Bewertung von Nachhaltigkeitsrisiken zum Einsatz.
Wie Transitions- und Auswirkungsszenarien ausgestaltet werden
Die Informationen, die in Transitions- und Auswirkungsszenarien einfließen, sind oft quantitativer Natur, aber werden durch qualitative Informationen ergänzt. Die Unternehmen gaben an, mindestens zwei Klimawandelszenarien zu untersuchen, um so den Einfluss auf Finanzvariablen zu messen.
Bei der Ausgestaltung der Transitions- und Auswirkungsszenarien orientieren sich die Unternehmen an klimabezogenen Analysen wie den Szenarien des Network of Central Banks and Supervisors for Greening the Financial System (NGFS), der Bank of England (BoE), des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), etc. Auch werden Stressszenarien für Naturkatastrophen (NatCat) von kommerziellen Anbieter von Risikomodellen betrachtet.
Die Referenzszenarien des NGFS decken ein breites Spektrum an Szenario-Narrativen unter einem einheitlichen Rahmenwerk für die Modellierung ab. Die Szenarien der BoE greifen auch auf die RCP- (Representative Concentration Pathway) und SSP-Szenarien1 (Shared Socioeconomic Pathway) des IPCC zurück.
Zentrale Begriffe kurz erklärt
Szenario-Narrative beschreiben Entwicklungspfade basierend auf vordefinierten Parametern. Unterschiedliche Szenarien heben verschiedene Schlüsselereignisse und Parameter hervor, so dass mögliche Entwicklungen untersucht werden können. Sie erlauben Sensitivitätsanalysen.
RCP-Szenarien bilden verschiedene zukünftige Klimapfade bis 2100 ab, abhängig von der Konzentration von Treibhausgasen. RCP steht für Representative Concentration Pathway.
SSP-Szenarien umfassen darüber hinaus auch sozioökonomische Informationen. Die Szenarien des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) erfassen die Vulnerabilität, die durch die physischen Risiken des Klimawandels verursacht wird. SSP steht für Shared Socioeconomic Pathway.
NatCat-Modelle dienen der physikalischen Modellierung von Naturgefahrereignissen anhand von Charakteristiken wie Intensität, Lokalität oder Frequenz. NatCat steht für Natural Catastrophe (dt. Naturkatastrophe).
Heatmaps sind farbliche Visualisierungen von Daten, die der intuitiven Erkennung hoher (meist rot) oder niedriger Werte (meist grün) dient.
Integrated Assesment Models (IAM) (integrierte Bewertungsmodelle) bilden die komplexe Dynamik zwischen Makroökonomie, Landwirtschaft/-nutzung, Energie, Wasser und Klima ab und werden als Grundlage für IAM-Szenarien zur Analyse klimabezogener Risiken genutzt.
Die befragten Unternehmen selektieren die aus ihrer Sicht zutreffenden Szenariospezifikationen hinsichtlich des Klimawandels, um die Risiken in geeigneter Weise abbilden zu können. So verwenden sie Finanzmarktvariablen und makroökonomische Variablen und passen die Szenarien so an, dass sie die sektorale und regionale Exponierung gegenüber dem Klimawandel abbilden können (siehe Kasten „Variablen in klimabezogenen Analysen“). Bei den Zeithorizonten der zugrunde gelegten Szenarien gaben die Unternehmen Betrachtungszeiträume bis 2100 an2, wobei auch Zeiträume bis 2050 bzw. 2080 genannt wurden. Das ist sinnvoll, denn Klimaveränderungen gehen über solch lange Zeitspannen vonstatten. Gleichzeitig nimmt jedoch die Unsicherheit bezüglich zukünftiger Entwicklungen mit fortschreitendem Betrachtungshorizont zu.
Für die Kapitalanlagesteuerung greifen einige Unternehmen auf kostenpflichtige Nachhaltigkeitsdaten und -ratings verschiedener externer Anbieter zurück.
Variablen in klimabezogenen Analysen
Als Klimavariablen ziehen Unternehmen u. a. CO2-Preise, CO2-Emissionen, Treibhausgasziele, prognostizierte Emissionsreduktionspreise, Temperaturveränderungen sowie Frequenz, Intensität und Häufigkeit von Elementarschäden heran.
Ökonomische Variablen sind Spread-Entwicklungen (Renditen von Staats- und Unternehmensanleihen), Zinsentwicklungen (Geld- und Kapitalmarkt), Bruttoinlandsprodukt, Kapitalmarktindizes, Aktienkurse, Dividendenrentabilität, Durationen, Inflation, Swap Rates, Bruttowertschöpfung, Immobilienpreise, Mietenrentabilität, Infrastrukturpreise und Rentabilität von Infrastrukturprojekten.
Bei der Analyse von physischen Risiken verwenden Unternehmen auch technische Indikatoren wie Average Annual Loss, Asset Allocation, Schadenhäufigkeit und -höhe sowie das Exposure. Nettoergebnis und Nettoverzinsung der Kapitalanlagen sowie versicherungstechnisches Ergebnis und die Combined Ratio (Schaden-/Kostenquote) geben Aufschluss über die Profitabilität nach dem Handelsgesetzbuch (HGB).
Wie Daten beschafft werden
Für IAM-Ansätze, wie den des Network for Greening the Financial System, sind sämtliche Informationen, Dokumente und Webinare frei zugänglich, so dass Unternehmen keine externen Beratungsleistungen einkaufen müssen. Insgesamt gibt es eine Reihe an Open-Source-Modellen. Kostenpflichtige externe Datenprovider kommen hingegen z.B. im Kontext von Emissionsdaten, ESG3-Scores oder Ratings zum Einsatz.
Um physische Risiken zu untersuchen, bedarf es ausreichend granularer Naturgefahrenkarten. Dabei beziehen sich Versicherer meist auf externe Datenprovider und wissenschaftliche Studien, da rohe Klimamodellergebnisse Naturgefahren häufig nicht akkurat abbilden können. Die Beschaffung von Lokationsdaten von Kapitalanlagen ist bisher eine Herausforderung.
Konsistenz und Vergleichbarkeit von Daten
Die Unternehmen nannten die Konsistenz und Vergleichbarkeit der verwendeten Daten als wichtigste Herausforderung. Aufgrund von Datenlücken, etwa bei bestimmten Assetklassen, müssen sie geeignete Näherungsansätze nutzen, um die geringe Abdeckung zu kompensieren.
Komplexität der angewandten Modelle
Die Komplexität der angewandten Modelle unterscheidet sich stark, je nach Modellspezifikationen. Bei einfachen deterministischen Modellen mit instantanen Schocks auf die Marktwerte der Kapitalanlagen ist die Modellkomplexität eher gering. Solche Modelle geben zwar kein umfassendes Bild zur Betroffenheit von Versicherern bezüglich klimabezogenen Risiken. Sie sind aber sinnvoll, um sich ein erstes Bild von der Betroffenheit zu machen und im nächsten Schritt tiefergehende Analysen zu unternehmen.
Im Gegensatz dazu sind Modellansätze, die unterschiedliche Komponenten vereinen, deutlich komplexer. Die Input-Parameter solcher komplexen Modelle umfassen u.a. die Betrachtung verschiedener langfristiger Erwärmungsszenarien (RCP- oder SSP-Szenarien), die Analyse transitorischer und physischer Risiken über einen längeren Zeithorizont, die Berücksichtigung von granularen Daten von Staaten (z.B. NDCs, kurz für Nationally Determined Contributions) und Unternehmen (z.B. Standorte von Gebäuden), die Heranziehung unterschiedlicher IAM zur Modellierung von ökonomischen Szenarien sowie die Einbeziehung von Klimaforschungsmodellen.
Wie die Ergebnisse der Modelle interpretiert werden
Wichtig für die quantitative Interpretation der Ergebnisse der verschiedenen Modelle ist es, die Klimaszenarien in finanziell interpretierbare Parameter zu übersetzen, die Versicherer dann in Key-Performance-Indikatoren für die Kapitalanlagesteuerung überführen können.
Für die Kapitalanlagen gaben die Unternehmen allgemein den Marktwertverlust als Zielgröße der Analysen an. Dabei kann eine Dekomposition in transitorische und physische Beiträge zur Wertänderung je Anlageinstrument (Unternehmen) für einen modellierten Zeithorizont bis 2100 erfolgen.
Für Solvenzstresstests ziehen Versicherer typischerweise Eigenmittel, Solvenzkapitalanforderungen und Eigenkapitalquoten heran. Buch- und Marktwerte der Kapitalanlage und der versicherungstechnischen Rückstellungen sowie Eigenkapital bzw. Eigenmittel ergeben sich aus der Bilanzanalyse und spiegeln sich in der SCR-Quote wider. Zudem analysieren Unternehmen auch die Veränderung des Jahresergebnisses.
Als Herausforderung nennen viele Versicherer die Übersetzung der Szenarien in Risikofaktoren, da z.B. die NGFS-Szenarien in erster Linie makroökonomische Variablen und wenige Finanzmarktvariablen heranziehen. Daneben bemängeln sie die unzureichende sektorale und geografische Granularität und unzureichende Abdeckung. Dies erschwert die Umsetzung von Handlungs- oder Steuerungsmaßnahmen.
Erwartungshaltung der Aufsicht an das Risikomanagement
Die Versicherer bewerteten es durchweg positiv, dass sie tiefergehende Erfahrungen in der Bewertung von Klimawandelrisiken sammeln konnten. Dabei spielte die Beschäftigung mit der narrativ-qualitativen Szenarioentwicklung im Rahmen von unternehmensinternen Analysen, sobald quantitative Modelle ihre Grenzen erreichen, eine wichtige Rolle. Hier sind die qualitativen Anwendungsbeispiele der Application Guidance zur Messung der Wesentlichkeit von Klimawandel und Klimawandelszenarien im ORSA von EIOPA ein wichtiges Instrument. Darüber hinaus nahmen sie die vorrausschauende Bewertung und Diskussion reaktiver Managementmaßnahmen als relevante Komponente in den Analysen wahr, um durch diese beispielsweise Anpassungen in Preispolitik, Reservierung, Zeichnungs- und Produktpolitik abzuleiten. Aufgrund der langen Frist und der Komplexität solcher Bewertungen stehen qualitative Erkenntnisse im Vordergrund, so dass keine explizite Modellierung in der Szenarioanalyse erfolgt. Um jedoch Erkenntnisse zur Materialität bestimmter Szenarioentwicklungen zu gewinnen, müssen Unternehmen auch quantitative und finanzielle Auswirkungen untersuchen.
Derzeit sind Modelle und die ihnen zugrunde gelegten Datengrundlagen weiterhin Work-in-Progress, so dass sich Unternehmen nur begrenzt auf die damit gewonnenen Erkenntnisse stützen können. Daten und Szenarien, wie z.B. kürzlich die des NGFS4, werden kontinuierlich überarbeitet. Auch wenn aufgrund der methodischen Unsicherheiten eine abwartende Haltung naheliegt, ist es für Versicherer ratsam, sich kontinuierlich mit dem Thema zu beschäftigen um zu verhindern, dass klimabezogene Analysen durch ihre Komplexität ausgebremst werden.
Auf der Basis der Ergebnisse der Analysen zum Transitionsrisiko lassen sich direkte Implikationen, etwa durch die Identifikation von Stranded Assets, also von Anlagen, die beispielsweise durch eine gesellschaftliche Stigmatisierung etablierter Technologien erheblich an Wert verloren haben, für die Assetallokation ableiten. Steuerungsinstrumente sind Heatmaps, die Visualisierung des Risikoprofils und die Analyse der Risikoexponierung gegenüber Klimawandelrisiken. Für versicherungsseitige Implikationen bewerten Unternehmen u.a. Haftpflichtrisiken aus der Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem Klimawandel sowie neue Schadensmuster. Die Fülle an Methoden lässt großen Spielraum für Interpretationen. Wichtig ist, dass Versicherer bei der Wahl der Szenario-Parameter auch Worst-Case-Szenarien betrachten. Unternehmen können dies sicherstellen, indem sie insbesondere Hochemissionsszenarien zur Analyse der Auswirkungen physischer Risiken (Temperaturpfade weit über 1,5° Celsius) oder Niedrigemissionsszenarien zur Analyse von Risiken einer ambitionierten Transition (Temperaturpfade unter 1,5° Celsius) in ihre Auswertungen einbeziehen. Ludger Hanenberg, Abteilungsleiter Grundsatz der Versicherungsaufsicht in der BaFin, betonte bei der Jahrestagung der Versicherungsaufsicht der BaFin am 2. November 2022, dass er sich im Hinblick auf Klimastresstest im ORSA mehr Mut von den Versicherern wünsche: „Manche Unternehmen sind eher wie ein Regionalexpress, wo ich einen ICE erwartet hätte“. Ziel der klimabezogenen Analysen ist es nicht, die Auswirkungen der vom Klimawandel ausgehenden Risiken quantitativ und präzise zu quantifizieren. Versicherer müssen durch diese vielmehr in der Lage sein, sich ein Bild über die Wesentlichkeit einzelner Szenarien zu machen und strategische Schlussfolgerungen ziehen.
Fußnoten:
- 1RCP Szenarien wurden im 6. IPCC Sachstandsbericht durch SSP Szenarien ersetzt.
- 2Siehe Application guidance on climate change materiality assessments and climate change scenarios in ORSA | Eiopa (europa.eu)
- 3ESG steht für Environment, Social, Governance
- 4Quelle: https://www.ngfs.net/en/ngfs-climate-scenarios-central-banks-and-supervisors-september-2022
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